Während alles grünt und blüht, liegt mein Vater im Sterben. Unser Vater, wir sind drei Geschwister. Er geht zufrieden, lebenssatt mit seinen 94 Jahren und nicht mehr ganz auf dieser Welt. In den letzten Wochen scheint er schon ab und zu im Himmel gewesen zu sein. „Es war so schwer, von da oben wieder runterzukommen,“ erzählte er mehrmals unvermittelt bei einem meiner Besuche. Wovon redete er? Dachte er an Kriegserlebnisse? Schließlich fragte ich ihn, wie es denn „da oben“ gewesen sei. „Alles war so hell,“ antwortete er, „ich habe nur die Sonne gesehen.“
Mein Vater und ich – eine schwierige Beziehung. Doch die letzten Begegnungen mit ihm heilten unerwartet alte Wunden. Befreit vom Korsett der Konventionen und des Verstandes, in anderen Regionen schwebend, kamen Seiten seines Charakters zum Vorschein, die im normalen Alltag nicht zum Ausdruck kommen konnten. „Hast du genug zu essen?“ fragte er mich. Und immer wieder: „Ich habe solche Angst, dass die Kinder verhungern.“ Befand er sich innerlich in der Kriegs- oder Nachkriegszeit? Mir war es gleich, ich spürte seine Sorge um mich, uns, seine Kinder. Eine Sorge, die ich von ihm nicht kannte und die mich tief berührte.
Als ich heute an der Weser war, dem Fluss, an dem ich geboren wurde, überkam mich das starke Gefühl, dass unsere Beziehung jetzt, technisch ausgedrückt, „auf Reset gesetzt wird“. Dass wir wieder am Punkt Null beginnen können, dem Zeitpunkt meiner Geburt, bevor die bitteren Erfahrungen und Zerwürfnisse stattfanden, an einem Punkt, an dem einfach bedingungslose Liebe fließt.