Schaman/innen früher und heute, hier und anderswo
Als ich kürzlich etwas über das Leben des Dichters und Schriftstellers Hermann Hesse erfuhr, fielen mir die Interviews ein, die ich mit Menschen geführt habe, die schamanische Arbeit machen. Die erste Hälfte von Hesses Lebensweg war dornig: er floh aus einer Schule und brach zwei Ausbildungen ab, bevor er eine Buchhändlerlehre beendete. Ein Suizidversuch und Nervenkrisen schüttelten ihn, bevor er innerlich zur Ruhe kam,
In den zwanzig Interviews mit schamanisch Praktizierenden aus Deutschland stieß ich auf etliche ähnlich schwierige Entwicklungswege. In Sibirien wurde dafür der Begriff „Schamanenkrankheit“ geprägt. Schamanenanwärter durchleben körperliche, psychische und soziale Krisen, bevor sie sich ihrer Berufung stellen – oder bevor überhaupt klar wird, dass es einen Ruf aus der Geistwelt, von den Spirits gibt, heilend tätig zu werden. Das Spannende ist, dass die Krankheitssymptome im Allgemeinen verschwinden, wenn die Betroffenen diese Berufung annehmen.
Schaman/innen in indigenen Kulturen waren und sind Ärzte, Priesterinnen, Sozialarbeiter, Psychologinnen, Sänger, Künstlerinnen und Dichter. Ihre Aufgabe ist es, das Leben einzelner und der Gemeinschaft in Harmonie mit der Natur und dem Kosmos zu erhalten. In unserer modernen Kultur verteilen sich diese Funktionen auf verschiedene Berufsfelder.
Ich würde den Dichter Hermann Hesse nicht als Schamanen bezeichnen – aber auch seine Werke haben eine heilsame Wirkung.
P.S. Ein Hinweis auf die Veröffentlichung der Interviews ist unter „Schamanische Entwicklungswege“ zu finden.